Dorothy L. Sayers hat sich noch 1928 in The Omnibus of Crime gegen die Einführung einer Liebesromanze gewehrt. Sie meine, daß entweder die Romanze oder die Detektivgeschichte an Glaubwürdigkeit einbüßen würden. Sayers schreibt, daß es nur wenigen Autoren gelungen sei, eine glaubhafte Verknüpfung zu erreichen.
“Apart from such unusual instances as these the less love in a detective story, the better. ‘L´amour au théâtre,’ says Racine, ‘ne peut pas être en seconde place,’ and this holds good of detective fiction. A casual and perfunctory love-story is worse than no love-story at all, and, since the mystery must, by hypothesis, take the first place, the love is better left out.”[1]
Der Grund hierfür ist, daß es dem Detektiv möglich sein muß, rational an die Lösung des Problems zu gehen. Er darf sich nicht durch seine Gefühle für die eine oder andere Person, die für ihn zum Kreis der Verdächtigen gehören müssen, ablenken lassen. Wird er abgelenkt, wird er für den Leser von Kriminalromanen uninteressant. Sayers sieht hier ein kaum zu lösendes Problem.
“There is the whole difficulty about allowing real human beings into a detective-story. At some point or other, either their emotions make hay of the detective interest, or the detective interest gets hold of them and makes their emotions look like pasteboard.”[2]
Trotzdem unternimmt Sayers in Strong Poison dieses Wagnis und führt die Person der Harriet Vane, der späteren Lady Peter Wimsey ein.
Harriet Vane ist die Partnerin in einer Reihe von Lord-Peter-Wimsey-Abenteuern. Sie spielt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung Lord Peters vom Superdetektiv zu einer Figur eines realistischen Romans. Zu diesem Zweck gilt es, zwei Hindernisse zu überwinden: das eine ist die silly-ass-about-town-Haltung, seine Rolle des geistig minderbemittelten Adligen, die für Wimsey so typisch ist, und das andere seine Rolle des Superhelden. Sayers waren Wimseys übermenschliche Fähigkeiten und seine unterentwickelte Persönlichkeit sehr bewußt. Sie benutzt Harriet Vane, um sowohl die Notwendigkeit als auch die Mittel für Lord Peter Wimseys Veränderung zu schaffen. Peter hatte sich durch eine Reihe von Büchern hindurch weiterentwickelt. Bereits in Strong Poison hatte Sayers ihm Charaktereigenschaften und Informationen aus seiner Vergangenheit mitgegeben, die ausbaufähig waren. Um aber zu einem menschlichen Charakter zu werden, brauchte er Unterstützung. Margaret P. Hannay sieht Harriets Aufgabe so:
“Peter has come as far into humanity as he could on his own. If he is to progress into fuller life, he needs help. Sayers provides that help in the person of Harriet Vane, who is the catalyst of Peter´s humanity in several important ways: she provides the necessity for developing his character, she serves as an indirect narrator in love with the hero, thus relieving the author of that charge; she functions as a ficelle within the story, allowing Peter to reveal both his crushing sense of responsibility for getting people hanged and his many personal weaknesses.”[3]
Damit wird Harriets Aufgabe in Strong Poison, jedoch noch mehr in den folgenden Romanen, deutlich umrissen. Sie dient als Mittel für Wimseys weitere Entwicklung, indem sie zum einen als Kontrast wirkt und zum anderen teilweise die Erzählerfunktion übernimmt und dadurch die Sicht einer dritten Partei verdeutlichen kann.
3.1 Lord Peter Wimsey und Harriet Vane: Der Ritter und die Prinzessin
Harriet Vane wird in Strong Poison angeklagt, ihren ehemaligen Lebensgefährten Philip Boyes mit Arsen vergiftet zu haben. Charles Parker, der Freund Wimseys bei Scotland Yard, hat im Vorfeld des Buches den Fall untersucht und genügend Beweise gesammelt, die Harriet Vane als Schuldige wahrscheinlich machen und die ausreichend sind, sie zum Tode zu verurteilen. Der Leser, wie auch Lord Peter Wimsey, lernt Harriet als Angeklagte im Gerichtssaal kennen, während der Richter den Fall noch einmal für die Geschworenen zusammenfaßt, um ihnen die Entscheidung zu erleichtern. Er tut dies auf eine Art, die deutlich macht, daß er von ihrer Schuld überzeugt ist.
So sagt er:
“‘The Prisoner is also a novelist by profession, and it´s very important to remember that she is a writer of so-called ´mystery´ or ´detective´ stories, such as deal with various ingenious methods of commiting murder and other crimes.’”[4]
Ein Mitglied der Jurie gehört zu Lord Peters Bekanntenkreis. Es ist Miss Climpson, eine Figur, die Dorothy L. Sayers bereits in Unnatural Death[5] verwendet hat. Miss Climpson ist eine ledige, ältere Dame mit gesundem Menschenverstand. Sie verkörpert das Klischee der spinster und ist der Miss Marple von Agatha Christie, die erst später entstand, sehr ähnlich. Lord Peter Wimsey beschäftigt sie als Kopf einer Privatagentur, die sich als Schreibbüro tarnt, tatsächlich aber ihm gelegentlich Hilfestellung leistet und sich ansonsten mit der Entlarvung von Betrügern und Scharlatanen beschäftigt, die sich die vermeintliche Leichtgläubigkeit von Personen, die einen ähnlichen, gesellschaftlichen Status wie Miss Climpson haben, zu Nutze machen wollen.
Dieser Miss Climpson hat Harriet Vane ihre vorläufige Rettung zu verdanken, denn sie verhindert eine einstimmige Entscheidung der Jury. Nach mehrstündiger Beratung der Geschworenen verkündet deren Sprecher, daß keine Einigung erreicht werden konnte. Der Richter muß daraufhin entscheiden, daß eine neue Verhandlung anberaumt wird.
Lord Peter, der erst kürzlich aus dem Ausland wieder zurückgekehrt ist, verfolgt das Geschehen sehr emotional. Er ist sehr angetan von der Angeklagten und von ihrer Unschuld überzeugt. Nach der Entscheidung eilt er zu Harriets Verteidiger, Sir Impey Biggs, den Sayers bereits in Clouds of Witness[6] als Verteidiger des Dukes of Denver, Wimseys Bruder, benutzt hat, und bestürmt diesen, daß er, Lord Peter Wimsey, an der Bearbeitung des Falles beteiligt werden solle.
Bereits in der Zusammenfassung des zuvor Geschehenen durch den Richter erfahren wir Details über Harriet Vane. Sie ist eine Autorin von Detektivromanen, ledig und selbständig. Sie hatte eine Affäre mit Philip Boyes, seinerseits Autor einiger Bücher, die sich mit Atheismus, Anarchie und “freier Liebe” beschäftigt haben. Mit ihm lebte Harriet Vane zusammen, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Sie war ihm zu diesem Zeitpunkt sehr zugeneigt und auch bereit, ihn zu heiraten, hatte sich aber mit seiner Ablehnung gegenüber der Institution Ehe abgefunden. Als Boyes ihr dann einen Heiratsantrag machte, lehnte sie diesen ab und trennte sich von ihm. Bei einem Besuch Wimseys im Gefängnis begründet sie das:
“‘No,(…) Philip wasn´t the sort of man to make a friend of a woman. He wanted devotion. I gave him that. I did, you know. But I couldn´t stand being made a fool of. I couldn´t stand being put on probation like an office-boy, to see if I was good enough to be condescended to. I quite thought he was honest when he said he didn´t believe in marriage – and then it turned out that it was a test, to see whether my devotion was abject enough. Well, it wasn´t. I didn´t like having matrimony offered as a bad-conduct prize.’”[7]
Harriet Vane ist eine stolze Frau, die sich ihres Wertes bewußt ist. Auch Dorothy L. Sayers sollte erfahren, daß sie mit ihr nicht machen konnte, was sie wollte.
Dorothy L. Sayers’ ursprüngliches Motiv, Harriet Vane in ihre Romane einzubringen, war es, sich von Lord Peter Wimsey zu trennen. Sie hatte über sieben Jahre Romane und Kurzgeschichten über ihn geschrieben und wollte ihr Tätigkeitsfeld verändern. Da sie sich aber der Popularität Lord Peter Wimseys bewußt war, wollte sie sich die Peinlichkeit ersparen, der Sir Arthur Conan Doyle ausgesetzt war. Er hatte seinen Helden Sherlock Holmes sterben lassen und mußte ihn auf Druck der Leserschaft wieder zum Leben erwecken, was natürlich kaum möglich war, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dorothy L. Sayers beschloß daher, Lord Peter zu verheiraten. Da es unter den Autoren von Detektivromanen lange als ungeeignet galt, eine Romanze mit der Aufklärung eines Verbrechens zu verbinden, wählte Dorothy L. Sayers diesen Ausweg.
Bereits bei der ersten persönlichen Begegnung zwischen Harriet und Lord Peter im Gefängnis macht er ihr einen Heiratsantrag.
“‘What I mean to say is, when all this is over, I want to marry you, if you can put up with me and all that.’
Harriet Vane, who had been smiling at him, frowned, and an indefineable expression of distaste came into her eyes.
‘Oh, are you another one of them? That makes forty-seven.’
‘Forty-seven what?’ asked Wimsey, much taken aback.
‘Proposals. They come in by every post. I suppose there are a lot of imbeciles who want to marry anybody who´s at all notorious.’
‘Oh,’ said Wimsey. ’Dear me, that makes it very awkward. As a matter of fact, you know, I don´t need any notoriety. I can get in the papers off my own bat. It´s no treat to me. Perhaps I´d better not mention it again.’”[8]
Er hält sich jedoch nicht an diesen Vorsatz und kommt immer wieder auf seine Heiratsabsichten zurück.
Lord Peter Wimsey trägt seinen Antrag auf ausgesprochen ungeschickte Art und Weise vor. Seine Vorgehensweise verrät, daß er sich nicht in die Situation Harriets hineinversetzt hat. Er sieht auch nicht voraus, daß sie sich für einen Preis halten muß, der dem Ritter verliehen wird, der das Turnier gewonnen hat.
An dieser Stelle wird deutlich, in welch unterschiedlichen Situationen die beiden sich befinden. Wimsey geht das Problem mit der ihm gewohnten spielerischen Leichtigkeit an, für Harriet steht ihre Zukunft, ja ihr Leben auf dem Spiel.
Lord Peter Wimsey verändert sich mit dieser Szene. Seine Distanziertheit muß er aufgeben, damit seine Gefühle Harriet gegenüber für den Leser glaubhaft werden. Dorothy L. Sayers muß ihrem Detektiv mehr Tiefe geben. Sie kann der Struktur des alten Rätselspiels nicht mehr folgen, in dem es nur darauf ankam, den Fall zu lösen. Von diesem Moment an steht auch für Wimsey etwas auf dem Spiel. Er wird involviert.
Der Leser erfährt von seiner mentalen Verwundbarkeit, seiner Eitelkeit. In Harriet findet er einen Partner, der seiner ebenbürtig, in emotionaler Hinsicht ihm sogar überlegen ist. Jessica Mann sieht Wimsey hier in einer alten Tradition:
“He fell in love with her at that unpropitious first sight, when she was in the dock at the Old Bailey, and like Perseus, like St. George, like a knight of the Round Table, rescued her from her peril and sued for her hand in marriage as a reward. (…) At the same time she plays the leading role in a modern replay of a different story, for she is also the Cinderella figure.”[9]
Aber da Sayers’ Helden in modernen Zeiten leben, verhält sich alles etwas komplizierter und dadurch glaubwürdiger. Der Ritter erschlägt den Drachen und rettet seine Geliebte, verzichtet aber auf den Preis; [10] Cinderella wird vom Prinzen umworben, aber sie will ihn nicht. Das ist für Wimsey, mehr noch für die Rolle des Superdetektivs, eine ungewöhnliche Situation. Ein Held wie Wimsey bekommt, was er will. Aber Harriet Vane holt ihn von seinem Podest und stellt ihn mit beiden Füßen auf die Erde.
Dorothy L. Sayers stand vor einem Dilemma. Sie wollte Lord Peter einen Abgang verschaffen, konnte das aber aus zwei Gründen nicht. Erstens war Lord Peter ein kommerzieller Erfolg. Die Leser wollten mehr Lord-Peter-Wimsey-Abenteuer. Zweitens funktionierte ihr Vorhaben, ihn zu verheiraten, nicht so wie geplant.
“But what really stayed my hand was something still more unexpected, and in a sense more creditable. I could not marry Peter off to the young woman he had (in the conventional Perseus like manner) rescued from death and infamy, because I could find no form of words in which she could accept him without loss of self-respect. I had landed my two chief puppets in a situation where, according to all the conventional rules of detective fiction, they should have had nothing to do but fall into one another´s arms; but they would not do it, and that for a very good reason. When I looked at the situation I saw that it was in every respect false and degrading; and the puppets had somehow got just so much flesh and blood in them that I could not force them to accept it without shocking myself.”[11]
Interessant ist hier, wieviel Eigenleben Dorothy L. Sayers ihren Kreationen zugesteht. Weil diese zu sehr realen Persönlichkeiten aus Fleisch und Blut ähneln, kann sie sich nicht dazu durchringen, ihnen ein Verhalten aufzuwingen, das ihrer Figuren unwürdig wäre.
Für Peter beginnt mit Strong Poison eine Entwicklung. War er in den vorangegangenen Büchern der Held mit der komischen Seite, will er nun ernstgenommen werden, denn seine Gefühle gegenüber Harriet sind ernst gemeint. Nicht nur der Leser hat Schwierigkeiten mit Wimseys neuer Einstellung. Auch für seine Mitstreiter kommt die neue Entwicklung unerwartet. So ist Charles Parker erstaunt zu hören, mit welchem Enthusiasmus Wimsey von Harriet redet:
“‘What eloquence!’ said Parker unimpressed. ‘Anybody would think you´d gone goopy over the girl.’
‘That´s a damned friendly way to talk,’ said Wimsey, bitterly. ‘When you went off the deep end about my sister I may have been unsympathetic – I daresay I was – but I swear I didn´t dance on your tenderest feelings and call your manly devotion “going goopy over a girl.” I don´t know where you pick up such expressions, as the clergy-man´s wife said to the parrot. “Goopy”, indeed! I never heard anything so vulgar!’
‘Good lord,’ exclaimed Parker, ‘you don´t seriously say-’
‘Oh no,’ retorted Wimsey, bitterly. ‘I´m not expected to be serious. A buffoon, that´s what I am. I now know exactly what Jack Point feels like. I used to think the “Yeomen” sentimental tosh, but it is all too true. Would you like to see me dance in motley?’”[12]
Auch andere Freunde stellen erste Anzeichen beginnender Veränderungen fest. Marjorie Phelps, eine Künstlerin und alte Freundin, unterstützt Wimsey bei der Suche nach Hinweisen in den Kreisen, in denen der ermordete Philip Boyes und Harriet Vane zu verkehren pflegten. Sie stellt bei ihm eine neue Ernsthaftigkeit fest. Wimsey erschrickt:
“That was the second time Wimsey had been asked not to alter himself; the first time, the request had exalted him; this time, it terrified him. As the taxi lurched along the rainy Embankment, he felt for the first time the dull and angry helplessness which is the first warning stroke of mutability. Like the poisoned Athulf in the Fool´s Tragedy, he could have cried, ‘Oh, I am changing, changing, fearfully changing.’ Whether his present enterprise failed or succeeded, things would never be the same again. It was not that his heart would be broken by a disastrous love – he had outlived the luxurious agonies of youthful blood, and in this very freedom from illusion he recognised the loss of something. From now on, every hour of light-heartedness would be, not a prerogative but an achievement – one more axe or case-bottle or fowling-piece, rescued Crusoe-fashion, from a sinking ship.”[13]
Was Wimsey hier erfährt, die Schmerzen, die er bei den ersten Anfängen seines emotionalen Reifeprozesses empfindet, ist auch für den Leser unerwartet. Helden in Detektivromanen stehen über den Empfindungen der Normalsterblichen. Auch Wimsey konnte sich bisher glücklich schätzen, von Gefühlen verschont zu sein. Aber nachdem er in Harriet einer Frau begegnet ist, die einer realen Figur eher gleicht als der zu rettenden Prinzessin oder Cinderella, wird auch er in diese reale Welt gesogen.
3.3 Dorothy L. Sayers und Harriet Vane
Während sich Lord Peter erst in den Büchern nach Strong Poison zu einer vollständigen Persönlichkeit entwickeln sollte, zeichnete sich Harriet Vane bereits von Anfang an durch eine starke Charakterbeschreibung aus. Das deutlich realer wirkende Erscheinungsbild der Harriet Vane entspringt der Ähnlichkeit, die diese Figur mit der Biographie Sayers’ hat. Beide sind Kriminalautoren, beide sind Oxfordabsolventinnen, beide wohnen zeitweise am Mecklenburg Square in London. Sogar Harriets Affäre mit Philip Boyes findet ihr Äquivalent in der Biographie Sayers’.[14] Harriet ist wie Dorothy bemüht, ihren Romanen einen realistischen Charakter zu geben. Auf diese Weise teilt Dorothy L. Sayers den Lesern ihre Ambitionen hinsichtlich ihrer Arbeit mit.[15] Jessica Mann glaubt, daß Harriet die Frau ist, von der Dorothy L. Sayers dachte, sie wäre ihr Ebenbild. Allerdings hat Sayers ihr noch ein paar Attribute mitgegeben, die zu haben sie sich gewünscht hätte: einen Ehemann, der sie akzeptierte, und physische Attraktivität.[16]
Eine Charakterisierung, die der Richter über Harriet abgibt, könnte in weiten Teilen auf Dorothy L. Sayers bezogen werden:
“‘She is a young woman of great ability, brought up on strictly religious principle, through no fault of her own was left, at the age of twenty-three, to make her own way in the world. Since that time – and she is now twenty-nine years old – she has worked industriously to keep herself, and it´s very much to her credit that she has, by her own exertions, made her self independent in a legitimate way, owing nothing to anybody and accepting help from no one.’”[17]
Obwohl Sayers’ Eltern noch am Leben waren, als sie mit ihren Büchern erfolgreich wurde, und sie auch zuvor in ihren Bemühungen moralisch und finanziell unterstützt hatten, war Sayers doch immer bemüht, ihren eigenen Weg zu gehen.
Dorothy L. Sayers erreicht, indem sie die Figur der Harriet Vane an ihren eigenen Lebenslauf anlehnt, daß diese Figur lebendig wirkt. Deutlich wird das besonders in Gaudy Night, wo Harriet Vane zum Spiegelbild Sayers’ wird. Sayers hatte ihr Leben lang ein sehr persönliches Verhältnis zu Oxford und eine Sehnsucht, dort ihrer Ausbildung entsprechend zu arbeiten. Auch Harriet wünscht sich, durch wissenschaftliche Arbeit wieder die richtigen Proportionen in ihrem Leben herstellen zu können und kleine Unannehmlichkeiten wieder in die richtigen Relationen gerückt zu sehen.
Suerbaum schreibt über diese Technik, einen Charakter menschlicher wirken zu lassen, und über Harriets Rolle in Gaudy Night:
“Die Autorin erreicht die Aufnahmefähigkeit des Romans für eigene Erfahrungen und Meinungen, indem sie das Bild der Heldin dem Selbstbild annähert. Harriet Vane vom Shrewsbury College ist wie Dorothy L. Sayers vom Somerville College eine Kriminalschriftstellerin mit literarischen Ambitionen, eine Frau mit Emanzipationsproblemen und university woman mit höchstem Prädikat im Examen und mit bleibender Sehnsucht nach der akademischen Welt. Auf der Kriminalebene der Geschichte kann sie zunächst als Detektivin eine Hauptrolle spielen. Sie ist aber keine problematisierte und psychologisch komplizierte Version des typischen Kriminaldetektivs, weil sie kaum weiterkommt, und >real< angelegt ist. Sie ist emotional involviert, sie ist mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, sie bleibt gegenüber den Mitgliedern des Senior Common Room in der Haltung der Kollegialität als Frau und Wissenschaftlerin und gegenüber den Bediensteten in der Haltung des Wohlwollens und der Fürsorge. Sie muß daher den Fall abgeben, sobald es ernst wird, und endet im Detektivspiel in der kläglichen Rolle des Helfers, der dem Großen Detektiv die Unterlagen liefert, aus denen der dann – ohne sie ins Vertrauen zu ziehen – die richtige, geniale Lösung entwickelt.”[18]
Harriet ist der emotionale Kontrapunkt zu Lord Peter Wimsey. Sie fühlt mit den Opfern, bringt ihre Persönlichkeit in die Aktion der Handlung mit ein. In den Fällen, bei denen Harriet Peter assistiert, spielen Persönlichkeit und Gewissen eine Rolle für die Entwicklung der Detektivgeschichte. Das war bis dahin untypisch für das Genre.
3.4 Harriets Einfluß auf Wimsey
Wenn in Strong Poison Harriets Leben auf dem Spiel steht, bedeutet das für Wimsey, der sie liebt, die ultimative Herausforderung. Zum ersten Mal ist seine eigene Zukunft bedroht. Die Kriminalistik verliert den Status des Hobbys und wird zur Notwendigkeit. Durch Harriet erfährt Peter die Angst vor dem Tod. Durch die Möglichkeit, daß sie zum Tode verurteilt wird, spürt er seine eigene Sterblichkeit und Ohnmacht. Durch Harriet wird eine Veränderung in Gang gesetzt, die in Gaudy Night ihren Höhepunkt findet und erst in Busman´s Honeymoon vollendet wird.
Die Spiegelszene in Strong Poison beschreibt eine Krise und einen Wendepunkt in Peters Existenz. Er steht in seiner Bibliothek vor den Büchern, die ihm nicht helfen können. Alles Wissen der Welt scheint ihm nichts zu nützen. Er fühlt sich machtlos.
“The great Venetian mirror over the fire-place showed him his own head and shoulders. He saw a fair, foolish face, with straw-coloured hair sleeked back; a monocle clinging incongruously under a ludicrously twitching brow; a chin shaved to perfection, hairless, epicene; a rather high collar, faultlessly starched, a tie elegantly knotted and matching in colour the handkerchief which peeped coyly from the breast-pocket of an expensive Savile-Row-tailored suit. He snatched up a heavy bronze from the mantelpiece – a beautyful thing, even as he snatched it, his fingers caressed the patina – and the impulse seized him to smash the mirror and smash the face – to break out into great animal howls and gestures.
Silly! One could not do that. The inherited inhibitions of twenty civilised centuries tied one hand and foot in bonds of ridicule. What if he did smash the mirror? Nothing would happen. Bunter would come in, unmoved and unsurprised, would sweep up the debris in a dust-pan, would prescribe a hot bath and massage. And the next day a new mirror would be ordered, because people would come in and ask questions, and civilly regret the accidental damage of the old one. And Harriet Vane would still be hanged, just the same.”[19]
Der Spiegel, der Wimsey sein wahres Ich vorführt, reflektiert einen Mann, der nur Äußerlichkeiten vorweisen kann. Wimsey sieht Affektiertheit, Borniertheit, Arroganz – eine bittere Satire auf den britischen Gentleman. Diesen Menschen kann Wimsey nur verachten und er will ihn zerstören. Doch er selbst ist dieser Mensch, und die Erziehung, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist, hindert ihn daran, sinnloser Gewalt und Zerstörungswut nachzugeben. Der britische Gentleman ist beherrscht.
So selbstkritisch wurde Wimsey dem Leser noch nie vorgestellt. Für Wimsey ist dies eine Schlüsselszene. Aber bis zur endgültigen Humanisierung der Figur Wimseys ist es noch ein langer Weg.
Die Frage der Heirat bekommt einen übergeordneten Charakter. Harriet Vane, die letzten Endes freigesprochen wird, ist Peter zur Dankbarkeit verpflichtet. Peter liebt Harriet und wünscht sie zu heiraten. Aber er will natürlich nicht, daß sie ihm nur aus Dankbarkeit nachgibt. Sie weiß das, und obwohl sie ihm durchaus wohlgesonnen ist, kann sie sich nicht sicher sein, ob ihre Zuneigung nicht einem Gefühl der Verpflichtung entspringt. Auf dieser Basis ist für sie eine Heirat unmöglich. Allerdings bietet sie Peter an, mit ihm zusammenzuleben.[20] Das lehnt dieser entschieden ab, nicht, weil er um seinen oder ihren Ruf fürchtet, sondern weil er die Frau, die er liebt, heiraten will. Doch dafür ist es noch zu früh.
Have His Carcase, der zweite Roman, in dem Harriet Vane eine Rolle spielt,[21] beginnt mit Harriets Wanderung durch die Küstenregion Englands. Sie findet eine Leiche, die von der Flut weggespült wird. Harriet Vane tritt in diesem Roman nicht als Heldin im romantischen Sinne in Erscheinung.[22] Sie geht mit dem Leichenfund relativ kaltblütig um. Sie untersucht ihn, macht Photos, bedauert hauptsächlich, daß sie nicht so erfahren ist im Umgang mit Leichen wie ihr eigener Romanheld Robert Templeton. Sie benutzt die Leiche für ihre eigene Publicity, um die Verkaufszahlen ihres neuen Buches zu steigern, ohne jedoch zu beachten, daß sie sich damit selbst erneut des Mordes verdächtig macht. Lord Peter Wimsey hört davon und reist ihr nach. Gemeinsam klären sie den Fall. Am wichtigsten ist, daß in diesem Roman viele Details aus Harriets Sicht dargestellt werden. Es wird deutlich, daß Harriet sich von Peter angezogen fühlt. Beide entwickeln eine Freundschaft und Kameradschaft, während sie den Fall zusammen bearbeiten. Wegen der schon erwähnten “Dankbarkeitsposition” Harriets kann sich aus der Zuneigung keine Liebe entwickeln – auch in Have His Carcase nicht.[23]
Mit Harriet Vane beschreibt Dorothy L. Sayers eine Frau, die als Sayers’ Idealbild der Frau in Großbritannien zwischen den beiden Weltkriegen betrachtet werden kann. Sie arbeitet an ihrer Selbständigkeit, ist kreativ und befreit sich von Traditionen. Harriet Vane ist eine moderne Frau.
2. Die klassische Detektivgeschichte
4. Die Rolle der Frau bei Dorothy L. Sayers
[1] The Omnibus of Crime, S. 104, Kursivschrift von Sayers
[2] Ibid, S. 105
[3] Hannay, S. 40
[4] Strong Poison, S. 3
[5] Dorothy L. Sayers: Unnatural Death, London: Hodder and Stoughton, 1991, Erstveröffentlichung: London, 1970
[6] Dorothy L. Sayers: Clouds of Witness, London: Hodder and Stoughton, 1988, Erstveröffentlichung: London, 1926
[7] Strong Poison, S. 43
[8] Ibid, S.44
[9] Mann, S. 113
[10] Vgl. Strong Poison, S. 260 Wimsey verschwindet aus dem Gerichtssaal, nachdem Harriet freigesprochen wird, aber bevor sie ihm danken kann.
[11] Dorothy L. Sayers: “Gaudy Night”, (Essay) S. 211, in: The Art of the Mystery Story, S. 209-221, Herausgeber: Howard Haycraft, New York: Simon and Schuster, 1946, Erstveröffentlichung in: Titles of Fame, Herausgeber: Denys K. Roberts, London 1937
[12] Strong Poison, S. 56
[13] Ibid, S.90, Kursivschrift von Sayers
[14] Vgl. Barbara Reynolds: Dorothy L. Sayers: Her Life and Soul, S. 133, [London]: Sceptre, 1993
[15] Vgl. Bruce Merry: “Dorothy L. Sayers: Mystery and Demystification”, S. 25in: Essays on Detective Fiction, S. 18-32, Herausgeber: Benstock, Bernhard, London: Macmillan, 1983
[16] Vgl. Mann, S. 111
[17] Strong Poison, S. 4
[18] Ulrich Suerbaum: Krimi, Eine Analyse einer Gattung, S. 122Stuttgart: Reclam, 1984
[19] Strong Poison, S. 168 f.
[20] Ibid, S. 245 f.
[21] Dorothy L. Sayers: Have His Carcase,
London: Hodder Stoughton, 1993, Erstveröffentlichung 1932. Have His Carcase
ist eine Anspielung auf Charles Dickens: The Pickwick Papers, London:
Penguin Popular Classics, 1994, Kap. 40, S. 620.
“‘Well Sam,’ said Mr. Pickwick, ‘I suppose they are getting the habeas
corpus ready.’ ‘Yes,’ said Sam, ‘and I vish they´d bring out the
have-his-carcass. It´s very unpleasant keeping us vaitin´ here. I´d ha´ got
half a dozen have-his-carcasses ready, packed up and all by this time.’”
[22] Vgl. Colin Watson:, Snobbery with Violence, English Crime Stories and their Audience,
S. 155, Überarbeitete Version: London: Methuen, 1979
[23] Vgl. Hannay, S. 41